Heinrich Hauser
Ein Preuße auf hoher See
Heinrich Hauser ist Weltreisender, Schriftsteller, Feuilletonist, Journalist, Redakteur, PR- und Zirkusmann, Technikexperte, Testfahrer, Seefahrer, Flieger, Arbeiter, Barmann, Farmer, Student, Autodidakt, Fotograf und Dokumentarfilmer, Exilant – und ständig auf der Flucht: vor familiären Problemen, vor seinen Schulden, vor einem bürgerlichen Leben, aber er hat, im Gegensatz zu den meisten, wenigstens den Mut, ins Ungewisse zu fliehen. Würde er heute leben, wäre dieser bedeutende Vertreter der Neuen Sachlichkeit gewiss ein multimediales Genie.
Hauser kommt am 27. August 1901 in Berlin zur Welt. Er bezeichnet sich stets als Preußen. So steht es in seinem Geburtsschein. Er grenzt sich vom Deutschen ab. Sein Vater ist Arzt und zu Beginn des „Großen Krieges“ – wie er damals heißt – Rittmeister der Landwehr. Die Mutter entstammt dem dänischen Adel, ist musisch begabt, nach ihrer Scheidung Geigerin im Orchester des Staatstheaters Weimar und Schülerin von Rudolf Steiner. Heinrich lebt bei ihr und besucht das humanistische Gymnasium in Weimar. Vater und Sohn verstehen sich nicht, und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Sein Vater ist sieben Mal verheiratet. Heinrich selbst bringt es auf fünf Ehen.
Sehr früh beginnt sich Heinrich für Maschinen, Technik, Flugzeuge und Automobile zu interessieren. Gleichzeitig fühlt er sich von der Natur angezogen. Dieser Widerspruch bestimmt sein Werk. Er löst sich auf See auf, und in der Luft, wo Natur und Technik so etwas wie eine Symbiose eingehen.
Als 17-Jähriger wird Hauser Seekadett in der Kaiserlichen Marine und tritt nach der Novemberrevolution in das Freikorps Maercker ein, welches zum Schutz der Nationalversammlung in Weimar eingesetzt wird. Ein Praktikum bei den Krupp-Werken in Essen, das ihn zum Ingenieurstudium befähigen soll, muss er nach einem Arbeitsunfall im Sommer 1919 abbrechen: er stürzt von einer Eisenbahnbrücke, liegt sechs Wochen im Krankenhaus, aber die Verbindung zur Technik bleibt intakt. In Wilhelmshaven, als Unteroffizier auf einem Torpedoboot der „Eisernen Flottille“, erlebt er den Kapp-Putsch. Wieder an Land, schlägt er sich durch, nimmt Gelegenheitsjobs an. Dann rafft er sich auf, beginnt im Oktober 1920 ein Medizinstudium in Jena, bricht es ab, wechselt im Januar 1922 an die Universität Rostock, aber er kann nicht stillsitzen. Er hält sich in verschiedenen Städten auf, versackt immer mehr, kommt unter die Räder. Er stiehlt aus reiner Not. Es zieht ihn hinaus in die Welt. Er muss weg, raus. Er heuert als Leichtmatrose auf dem Frachter „Hannover“ an. Die Fahrt geht nach Schweden, nach Afrika und im November 1922 nach Australien, wo er den Winter und das Frühjahr verbringt. Auf diese Weise beginnt seine lebenslange Flucht, und sie hat nie aufgehört. Mit einem anderen Frachter kehrt Hauser im Sommer 1923 nach Deutschland zurück.
Zurück an Land ist er wieder ziellos, probiert verschiedene Dinge, assistiert zum ersten Mal bei Filmaufnahmen, acht Tage lang. Im Kreis des Malers Walter Spies lernt er den Autor Jürgen von der Wense kennen und beginnt sich für die Schriftstellerei zu interessieren: „Jetzt werde ich schreiben. Wunderbar ist es, zu schreiben, so dass man selber es nicht sieht, geheimnisvoll Zeile um Zeile abzutasten mit der Breite des Fingers…“
Der Däne Johannes Vilhelm Jensen, ein späterer Kollege und Freund bei der Frankfurter Zeitung, Literatur-Nobelpreisträger von 1944, bemerkt: „Zwei Dinge scheinen sich in Heinrich Hausers Person vereinigt zu haben: Die Fähigkeit zu schreiben und die Fähigkeit, sich Stoff zu verschaffen.“ In Thematik und Ausdruckskraft wird Hauser deshalb gelegentlich mit den ganz großen Erlebnisschilderern, mit Jack London und Joseph Conrad verglichen. Für Hauser ist das Schreiben wie Musizieren: „Habe Papier eingespannt und alle zehn Finger auf die Tasten gelegt. Es ist wie in der Kirche, wenn der Organist die Hände ausspreizt auf der Klaviatur: es dauert eine ganze Weile, bis das Präludium ertönt.“ Hauser ist musisch im Sehen: ein Augenmensch.
Spies, mit dessen Schwester, einer Berliner Primaballerina, Hauser eine Zeitlang liiert ist, ist ein Freund des Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau und bei den Dreharbeiten von NOSFERATU mit dabei. Hauser schließt sich Spies an, und gemeinsam reisen sie nach Java. Spies bleibt auf Java und lässt sich später auf Bali nieder. Er kommt während des Zweiten Weltkriegs durch eine japanische Fliegerbombe um. Hauser kehrt im Januar 1924 von Java und Indien nach Deutschland zurück. Im Mai bewirbt er sich bei einer Berliner Abendzeitung und wird nach Südamerika geschickt. In Batavia erkrankt er an Malaria. Im Oktober kehrt er zurück. Über einen Feuilletonbeitrag kommt er eine Zeitlang beim Zirkus Sarrasani unter, leitet dort, was sie schamvoll „literarische Abteilung“ nennen, und etwas später, aber konkreter die Verwaltung.
Hauser beginnt auf seinen Reisen, während er oft jede Menge Jobs ausübt, Geschichten zu sammeln. Seine Erlebnisse bilden den Grundstock für Reisebücher, Reportagen und Romane. 1929 wird Hauser für seinen Roman BRACKWASSER mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet.
Chronist der Weltwirtschaftskrise und der Machtergreifung
Kurz vor und während der Weltwirtschaftskrise entwickelt Hauser eine ungeheure Aktivität. Es wird die künstlerisch produktivste Zeit seines Lebens. Im Auftrag des S. Fischer Verlags, Mai bis August 1929, reist er nach Westindien und schreibt weiter Reiseberichte. (Die Verbindung mit Fischer geht 1933 zu Bruch, als er mehr oder minder seinem Auftragswerk MANN LERNT FLIEGEN eine Widmung für Hermann Göring voranstellt.) Hauser wechselt zu Eugen Diederichs, schreibt querbeet für Zeitungen und Magazine: Die Tat, die Frankfurter Zeitung, die Neue Rundschau, die Berliner Illustrirte, Die Woche, aber auch für Otto Strassers Schwarze Front. Er reicht Patente ein, unternimmt eine strapaziöse Ostpreußen-Reise, mit Zug, Auto, Fahrrad, Boot, zu Fuß. Er wird viel gelesen – und kann sich doch nur mühsam über Wasser halten.
Als die Nazis an die Macht kommen, will er sich aus allem raushalten und kann es doch nicht. Er schreibt über die Beisetzung Hindenburgs im Tannenberg-Denkmal, geht auf Distanz zu Hitler, weil der nicht dem letzten Willen des greisen Reichspräsidenten gefolgt ist, ihn auf Gut Neudeck zu bestatten, sondern ihm ein „Nationaldenkmal“ gesetzt hat. Hauser spricht von „geistiger Emigration“. Er will über neutrale Themen aus der Industrie schreiben. Er wird Testfahrer für die Adam Opel AG und schreibt über Automobile.
Hitler versus Germany
1936 reist Hauser ein zweites Mal nach Australien, mit dem Segelschiff „Pamir“. Er schreibt ein Buch über die Fahrt. 1937 verlässt seine dritte (wie die zweite jüdische) Ehefrau Ursula Deutschland und geht in die USA, die beiden Kinder, Tochter und Sohn, folgen ein Jahr später. Hauser hält sich, über Kanada kommend, eine Zeitlang in New York auf, geht für eine Reportage des Magazins Fortune dann doch noch einmal nach Deutschland. Angewidert von den Novemberpogromen und vorgewarnt durch die Zuspitzung der „tschechischen Frage“, wegen kritischer Äußerungen über das Vorgehen gegen Juden vor die Gestapo zitiert, verschafft er sich über Leute, die er bei Lloyd’s kennt, ein Schiffsticket in die USA. Vor der Abreise begegnet er zufällig seinem Vater. Die beiden sprechen nicht miteinander. Das ist im März 1939.
Hausers Fortune-Reportage erscheint auch als Buch: BATTLE AGAINST TIME: A SURVEY OF THE GERMANY OF 1939 FROM THE INSIDE. In einer zweiten Auflage wird das Buch 1940 unter dem Titel HITLER VERSUS GERMANY veröffentlicht.
In den USA setzt Hauser seine schriftstellerische Tätigkeit fort. Er lebt zuerst in Greenwich Village, dann auf einer Farm 60 Meilen westlich von Albany. Er muss jede Arbeit annehmen. Er schreibt, unter dem Pseudonym Alexander Blade, Science-Fiction-Stories für die Amazing Stories und gehört bald zu den profilierten Vertretern dieser von der etablierten Literaturkritik wenig geachteten, von ihm selbst sehr geschätzten Literaturgattung. (Den Durchbruch der utopischen Literatur auf dem amerikanischen Markt hat er nicht mehr erlebt.) Er betätigt sich als Ghostwriter, übersetzt, hält Vorträge vornehmlich auf High-School-Abschlussfeiern. 1941 heiratet er ein viertes, 1945, wenige Monate nach Kriegsende, ein letztes Mal. Im November 1948 verkaufen er und seine Frau Rita die „beweglichen Gegenstände“ der Farm auf einer Auktion. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft im Nachkriegsdeutschland.
Das Schicksal eines Remigranten
Ende 1948 treffen sie in der deutschen Trümmerlandschaft ein. Hauser will auch nach seiner kranken Mutter sehen. Henri Nannen, der ihn noch aus der Zeit vor dem Krieg kennt, holt ihn als Chefredakteur zum STERN, der damals noch in Duisburg sitzt. Doch die beiden impulsiven Charaktere kommen nicht gut miteinander aus. Hauser gehört der Redaktion nur vier Monate, bis Mai 1949, an.
Er findet sich anfangs im Nachkriegsdeutschland nicht zurecht, dann endlich kann er wieder für die Industrie arbeiten und in der Werbebranche texten. Er ist auch für Rowohlt tätig, schreibt Dokumentationen. Im Juli 1954 unterzeichnet er einen Jahresvertrag als freier Mitarbeiter bei Siemens, beteiligt sich dort an einem Filmprojekt, möglicherweise dem erst 1959 fertiggestellten Dokumentarfilm IMPULS UNSERER ZEIT. Doch das entbehrungsreiche Leben zehrt an seinen Kräften: Alkohol, seit seiner Matrosenzeit reichlich konsumiert, Zigaretten, zu wenig Schlaf. Die Kräfte schwinden. Er will sich von seiner Frau trennen, aber die erkrankt an Krebs. Hauser ist überzeugt, dass sie noch vor ihm stirbt. Er ist verzweifelt, schwer depressiv.
Er wird nur 53 Jahre alt. Heinrich Hauser stirbt am 25. März 1955 in Dießen am Ammersee.
Sehr gut möglich, dass er durch Schonger an den Ammersee gekommen ist. Seine Frau überlebt ihn um sechs Jahre.
Posthum erscheint als Leihbuch im Gebrüder Weiß Verlag Berlin, später bei Goldmann sein utopischer Roman GIGANT GEHIRN, der den Prozess, der mit der Automatisierung begonnen wurde, weiterspinnt. Das Hirn des Titels ist ein Supercomputer, der über eine Kapazität von 2500 menschlichen Gehirnen verfügt. Das Elektronenhirn hat nicht nur einen autonomen Intellekt, sondern auch Charakter und strebt eine Diktatur an.
Sein ganzes Leben, schreibt Grith Graebner in ihrer Dissertation über Hauser, habe er an der Hypothek seiner Kindheit und Jugend getragen, die ihn zu einem Einzelgänger, einem sehr schwierigen, cholerischen, aber auch labilen Charakter mit einem oft sehr ambivalenten Verhalten werden ließ, der Menschen seiner Umgebung schnell verletzen, aber auch zu einem guten Freund werden konnte.
FÜNF EHEN, VIELE BERUFE UND EIN RASTLOSER BERICHT, überschrieb die FAZ im Feuilleton einen Artikel über Hauser: Er sei hyperaktiv gewesen, ein von seinen Visionen Getriebener, immer auf der Suche nach neuen Fahrzeugen und Frauen, nach einem Halt im Strudel der Zeit. Mit Mitte Zwanzig hatte er schon so viele verschiedene Berufe ausgeübt, dass die Angaben zeitgenössischer junger Autoren dagegen verblassen: Matrose in Kiel, Wachmann in Hamburg, Freikorpssoldat in Weimar, Bergmann in Duisburg, Schafscherer, Koch und Schwimmlehrer in Sydney, Polizist auf den Philippinen, Autoschlosser in Chile. Er war Student und Schmuggler, See- und Ehemann, bevor er 1925 den Erfahrungsüberschuss ausschlachtete und anfing, Feuilletons über den „Organismus eines Lastkraftwagens“ oder den „Gesang der Presslufthämmer“ für die „Frankfurter Zeitung“ zu schreiben und an seinem ersten, noch stark vom Expressionismus geprägten Jugendbeziehungsdrama „Das zwanzigste Jahr“ zu arbeiten. Literarisch und politisch schwer einzuordnen, erneuerte er die deutsche Sprache und spaltete die Geister.
Hausers Leben ist spannend wie ein Film. Hausers Leben ist ein Film. Und er hat ja mehrere Filme gedreht.
Der Dokumentarfilmer
Im Auftrag der Frankfurter Zeitung reist Heinrich Hauser mit seiner zweiten Frau nach Irland und trifft den Schriftsteller Liam O’Flaherty. Auf einer zweiten Irland-Tour begleiten sie O’Flaherty auf die Aran-Inseln und drehen dort 1928 einen 18-minütigen Film: MAN OF ARAN. Diese Arbeit wird später mit Robert Flahertys Film gleichen Titels aus dem Jahr 1934 verwechselt, aber dann wird ein Fragment des verschollen geglaubten Hauser-Films gefunden.
Im Auftrag der Reederei F. Laeisz unternimmt Hauser 1930 eine Fahrt auf der „Pamir“. Sie führt von Hamburg nach Chile und dauert 110 Tage. Während der Fahrt erstellt er ein „Medienpaket“ aus Reisetagebuch, Fotografien und Film: DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE. Auch WELTSTADT IN FLEGELJAHREN entsteht im Zuge einer Reisereportage, für die Hauser Amerika mit einem Ford bereist: FELDWEGE NACH CHICAGO (S. Fischer).
1961 wird sein Migranten-Roman BRACKWASSER unter dem Titel BIS ZUM ENDE ALLER TAGE für das Kino verfilmt. Der Produzent ist ein anderer Remigrant: Seymour Nebenzahl. Nebenzahl hatte vor 1933 Brechts 3-GROSCHEN-OPER sowie Fritz Langs M und das nach Fertigstellung von Goebbels verbotene TESTAMENT DES DR. MABUSE produziert.
Text: Dr. Rolf Giesen